Von Andreas Monning – Die Diagnose Prostata- oder Hodenkrebs erschüttert Männer zutiefst. Viele sind von sich und ihrem Körper enttäuscht, verbergen Verunsicherung und Scham und behalten Ängste für sich. Dabei kann ein offener Umgang mit Gefühlen heilsam wirken – für den Betroffenen wie für sein Umfeld.
Lukas Brock ist ein einfühlsamer Mensch. Geleitet vom Wunsch anderen zu helfen, studierte er Sozialpädagogik, nach seinem Abschluss startete er voller Elan als Sozialarbeiter. Doch nach einem halben Jahr in seiner zweiten Anstellung kam die knallharte Unterbrechung. Diagnose: Hodenkrebs, Stadium 3N, das heißt maximal fortgeschritten. „Als ich das gehört habe, hat mich ganz schön die Angst gepackt, dass ich vielleicht sterben werde“, sagt Brock. Und natürlich habe er sich auch gefragt, warum ihn der Krebs ausgerechnet „da“ heimsucht. Statt seinem Traumberuf nachgehen zu dürfen, musste der damals 26-Jährige von heute auf morgen die Arbeitswelt mit der Klinikwelt tauschen. Während rund 120 Tagen Krankenhausaufenthalt gab es für ihn zwei Operationen und drastische Behandlungen zu überstehen, darunter eine Hochdosis-Chemotherapie, die ihm seine Körperbehaarung raubte und sein Knochenmark zerstörte.
Heute, drei Jahre später, geht es Lukas Brock wieder gut. Seine Lebensenergie ist zurückgekehrt, seit Kurzem arbeitet er wieder als Sozialarbeiter. Bei unserem Treffen in einem türkischen Café in der Nähe seiner Weddinger Arbeitsstelle wirkt er regelrecht heiter und aufgeräumt und erzählt ganz offen. Dass er von seiner Erkrankung vorher nichts gemerkt hat. Ja, zunehmend schlapp habe er sich damals gefühlt, erinnert er sich, habe sich aber nichts Böses dabei gedacht. Vielleicht der viele berufliche Stress? Möglich. Aber Krankheit, zudem noch eine so schwere? Nein. Da seine Hoden schon immer unterschiedlich groß waren, hat er dort jedenfalls nicht die Ursache für seine schwächelnde Verfassung vermutet. Ein Gang zum Hausarzt, die Tastuntersuchung seiner Hoden und übliche Routine- und Blutuntersuchungen ergaben zunächst auch einen tadellosen Befund. „Topfit“, hatte der Mediziner gemeint, und damit seine Werte gemeint. Denn gerade weil er sich nicht topfit fühlte, war er ja zum Arzt gegangen. Brock ist sportbegeistert und war viel mehr Leistung von sich gewohnt, und jetzt diese dauernde Müdigkeit…!?
Der Sozialarbeiter ging mit der Empfehlung nach Hause, Vitaminpräparate zu probieren, davon könnte seine Erschöpfung verschwinden. „Aber ich habe mich trotz der Präparate immer energieloser gefühlt“, erinnert sich der Wahlberliner, der zur Zeit seiner Erkrankung noch in Wien lebte. Ein paar Wochen später sei dann auch ein seltsames Ziehen in der Leistengegend dazugekommen, Rückenschmerzen hätten sich eingestellt, dann habe sein Gewicht sichtbar abgenommen. „Und da habe ich auch gemerkt, dass einer meiner Hoden geschwollen ist.“
Mit ungutem Gefühl ging Lukas Brock wieder zum Arzt, der dieses Mal eine umfassendere Blutuntersuchung veranlasste. Der Befund zeigte dramatisch hohe Entzündungswerte. Alarmiert überwies ihn der Mediziner zur Abklärung direkt in eine Klinik, in der man hochakuten Hodenkrebs feststellte. Seine Operation wurde gleich für den nächsten Tag angesetzt. In einem Routineeingriff wurde Lukas Brock der betroffene Hoden entfernt, doch in dem fortgeschrittenen Stadium, in dem sich seine Erkrankung befand, hatte der Krebs bereits Metastasen in Bauch- und Brustraum sowie im Halsbereich gebildet. Eine weitere OP wurde nötig, zudem die Hochdosis-Chemotherapie.
Was hat ihm geholfen, die erschütternde Diagnose, den langen Klinikaufenthalt, die schweren Operationen und die starke Chemotherapie zu überstehen? „An erster Stelle mein soziales Umfeld“, ist der 29-Jährige überzeugt. Alle hätten zu ihm gestanden. Hilfreich sei sicher gewesen, dass er von Anfang an sehr offen mit allen gesprochen habe – sowohl über die Diagnose und die Behandlungsdetails als auch über seine Gefühle. „Über meine Ängste und Sorgen zu reden, hat jedenfalls die Beziehungen zu meiner Familie, meinen Freunden und selbst zu meinen Arbeitskollegen gestärkt und vertieft“, sagt Brock. Und natürlich habe er sich auch therapeutisch begleiten lassen. Die Gespräche haben ihm sehr gut getan. Darüber hinaus begann er zu meditieren, lernte ein ruhiges Instrument zu spielen und las spirituelle Literatur. „Die Frage nach dem Sinn der Erkrankung und des Lebens hat mich verstärkt beschäftigt“, erinnert er sich.
Bis er allerdings seine Erfahrungen auch mit Fremden, beispielsweise anderen Betroffenen, habe teilen können und wollen, habe es eine Weile gebraucht. Ein Jahr nach dem Ende seiner Chemotherapien hat Lukas Brock eine Webseite eingerichtet, um dort über seine Erfahrungen zu sprechen: „Mich ganz offen der Welt zu zeigen, zu erzählen und auch Rat an Betroffene und deren Angehörige zu geben, hat mir dann das Gefühl gegeben, dass all das, was ich erlebe, einen Sinn hat.“
Der Sozialpädagoge weiß, dass er nach außen vor allem positiv und entspannt wirkt. Doch er gibt zu, dass auch ihn die Erkrankung an einer sensiblen Stelle seiner Männlichkeit getroffen hat. Einen Hoden einzubüßen, hat er zwar als nicht so dramatisch empfunden und entsprechend auf einen Ersatzhoden aus Silikon verzichtet, auch wegen des Entzündungsrisikos. „Aber als ich nach den Therapien wieder sexuell aktiv war, war ich schon verunsichert und habe mich gefragt, ob das jetzt komisch aussieht“, sagt Brock. Was ihm allerdings weit mehr zu schaffen mache, sei, dass er zwar weiterhin eine Erektion und einen Orgasmus haben könne – aber keinen Samenerguss mehr. „Die Nerven, die für den Samenauswurf zuständig sind, sind beschädigt worden, als die Metastasen im Bauchraum entfernt wurden.“ Abgesehen davon habe die Operation eine enorme Narbe auf seinem Bauch hinterlassen, die sein ganzes Erscheinungsbild verändere, wenn er nackt sei.
Ansonsten ist der Hauptunterschied zu seinem Zustand vor der Erkrankung, dass er jetzt achtsamer mit seiner Energie haushalten muss. Ob das sein Selbstbild als Mann beschädigt? „Eher nicht. In Sachen Männerbild nicht mit zu engen Vorstellungen zu leben, ist ein Vorteil vieler schwuler Männer“, winkt Brock mit dem Zaunpfahl. Die Frage, was „normal“ sei als Mann, begleite ihn naturgemäß schon viele Jahre. Die Auseinandersetzungen hätten ihn glücklicherweise von einigen Rollenzwängen befreit.
Da Lukas Brock im Frühjahr aus der österreichischen in die deutsche Hauptstadt gezogen ist, hat er zu seinen traumatischen Erlebnissen zum zeitlichen nun auch räumlichen Abstand gewonnen. Und mit diesem Abstand spürt er verstärkt den Bedarf, jetzt auch in den direkten Austausch mit anderen Betroffenen zu gehen. „Ich glaube, dass mir das helfen wird, bisher unverarbeitete Dinge zu bearbeiten, die nur andere Betroffene verstehen“, sagt der Sozialarbeiter.
Bei der Suche nach Möglichkeiten, sich in Berlin mit anderen Krebsbetroffenen über Gefühle auszutauschen, stieß Lukas Brock auf jede Menge Gesprächsgruppenangebote für Frauen. Die einzige psycho-soziale Gruppe für männliche Betroffene, die er berlinweit fand, ist die der Krebsberatung Berlin. Geleitet wird die Gesprächsgruppe für Männer von Psychotherapeut Christof Weber. Er begleitet in eigener Praxis auch zahlreiche Krebsbetroffene in Einzeltherapien. Dass Lukas Brock ihn angerufen hat und sich für die Gruppe interessiert, freut ihn. „Meiner Erfahrung nach ist es ein sehr gutes Zeichen, wenn ein an Krebs erkrankter Mann von sich aus die Initiative ergreift und sich Unterstützung organisiert“, sagt der Gestalttherapeut.
Die meisten Männer seien durch ihre Krebserkrankung so tief in ihrer Männlichkeit getroffen, dass sie nicht über ihre Gefühle sprechen wollten – schon gar nicht, wenn, wie bei Prostatakrebs häufig der Fall, auch noch Themen wie Erektionsstörungen oder Inkontinenz hinzukämen. „Wenn überhaupt, dann ist für diese Männer eine Einzeltherapie das höchste der Gefühle“, weiß Weber. Aber in einer Gruppe über sich und seine Schwächen und Gefühle zu sprechen, und dort womöglich auch noch zu weinen, das sei für viele undenkbar. Wenn daher jemand wie Lukas Brock den Austausch mit anderen Betroffenen suche, sei das außergewöhnlich.
Der Therapeut weiß, dass es alte, klischeehafte und nur vermeintlich überwundene Vorstellungen von Männlichkeit sind, die die meisten Männer blockieren. Nach diesen Vorstellungen müsse der Mann trotz Erkrankung „seinen Mann“ stehen. Müsse hart sein und weiter Leistung bringen, sich aber in keinem Fall seinen Gefühlen hingeben – und schon gar nicht weinen. „Und für die Männer, auf die das zutrifft, ist das unheimlich schade“, sagt der Therapeut. Denn der Austausch mit anderen Betroffenen sei überaus heilsam. Und er entlaste nicht nur den Erkrankten selbst, sondern auch dessen Angehörige, die oft nicht mehr wüssten, wie sie ihrem Sohn, Partner oder Vater noch helfen können.
Seit 13 Jahren erlebt Weber in seiner Gruppe, was in so einem Rahmen Erstaunliches passiert. „Da kapieren gestandene Männer, darunter Führungskräfte, die zum Teil mit Zweit- oder Dritterkrankung kommen: Ach wirklich, es gibt noch andere, die genau die gleichen Probleme haben wie ich selbst?“, sagt der Therapeut. Sie würden endlich erkennen, dass sie nicht alleine sind, dass auch andere Männer erkranken und Ängste und Sorgen haben, und dass auch sie darunter leiden, nie Gefühle zeigen und schwach sein zu dürfen. „Und das zu begreifen erleben die Teilnehmer als unheimlich befreiend“, sagt Weber. Das entlaste sie und nehme ihnen Druck. Und alle profitieren in der Gruppe voneinander. Die Teilnehmer hören zu, was andere für ihre eigenen Probleme für Lösungen entwickeln, und haben andersherum Zuhörer für ihre eigenen Gedanken. „Und so ist selbst der, der nichts sagt, weil er sich vielleicht nicht traut, wichtig für die Gruppe, weil er ein emotional beteiligter Zuhörer ist“, führt der Therapeut aus. Das nenne man in der Therapie „Zeuge“.
Und wenn es dann und wann auch noch einem Mann „passiere“, dass ihm vor allen anderen die Tränen kommen – weil ihn einfach seine Verzweiflung übermannt, und er spürt, dass er sich in einem Umfeld befindet, in dem Gefühle erlaubt sind und in dem wertschätzend miteinander umgegangen wird -, dann sei das ein Geschenk für die Gruppe. „Solche Ereignisse werden zu sogenannten Türöffnern, zur Erlaubnis für alle Teilnehmer, dass man auch als Mann Gefühle haben und weinen darf“, sagt Weber.
Natürlich brauche es seine Zeit, bis sich ein Betroffener öffnen könne. Aber nach und nach verändere sich bei den Teilnehmern die Vorstellung von Männlichkeit – und dadurch der Umgang mit sich und anderen. Bei über 100 Gruppenteilnehmern hat der Gestalttherapeut diese Veränderung schon live miterlebt. „Und in den durchschnittlich zwei Jahren, die ein Teilnehmer bleibt, kann sich eine Menge bewegen“, weiß Weber aus Erfahrung.
Dieser artikel ist zuerst im Tagesspiegel Magazin Mann & Frau, unter dem Titel: Warum ausgerechnet da unten? erschienen und wird auf unserer Seite mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlag Der Tagesspiegel GmbH veröffentlicht.